Avatar

Nach „Zeit für Zorn“ und der heiß beschimpften „Netzkrise“ nun noch einmal eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem, was wir sind – im Netz und im „wirklichen“ Leben. Die Diskussion um Avatare ist nicht neu, ihre Faszination besonders für die, die es im „wirklichen“ Leben schwer haben ist bekannt. Avatare sind Stellvertreter-Persönlichkeiten. Wir geben ihnen das Gesicht, das uns gefällt, die Talente, die wir gerne hätte, sie vertreten unser „Profil“ im Netz. Und schon merke ich bei mir selbst: Mein Avatar ist das, was ich gerne wäre.

Auf meinem privaten Facebook-Account sieht man mich im Gegenlicht mit Hut und Pfauenfeder in der Hand. Etwas verwegen wirkt das. Wär ich gerne. Bin ich nicht. Kein Stück. Für mein dienstliches Facebook-Leben lache ich fröhlich mit der Kamera an der Wange – der personifizierte Zuversicht. Wäre ich gerne, aber oft bin ich das genaue Gegenteil. Auf dem privaten Twitter-Account sind die Bilder nicht so wichtig. Aber ich glaube, ich bin da auch kaum erkennbar. Am ehesten kennt man auf Twitter meinen Blog, den ich nur dort teile. Warum? Weil ich meinen Twitter-Freundinnen am ehesten zutraue, auch mit meiner Wechselhaftigkeit, mit meinen Zweifeln und mit meinem Zorn umzugehen. Ihnen traue ich am ehesten zu, die Begrenztheit des Avatars zu verstehen und mehr wissen zu wollen …… das wird mir jetzt erst beim Schreiben klar.

Wer bin ich wirklich? Wer bist du? Ich bin ja auf dem Dorf groß geworden und später lange Jahre in einem Dorf Pastorin gewesen. Auf dem Dorf schieben die Menschen ihre Avatare vor sich her und werden im Laufe der Jahre eins mit ihnen. Besonders Ältere tun das, solche, die noch nie in ihrem Leben mit dem Internet zu tun hatten. Die Maske darf mal fallen, wenn grade Feuerwehrball ist und der Alkohol an allem schuld hat. Manchmal fällt sie, weil sich jemand etwas zu Schulden kommen ließ. Dann ist das Entsetzen groß. Manchmal haben sie mich hinter die Maske blicken lassen – ein unfassbar heiliges Geschenk, das ich bis in alle Ewigkeit in meinem Herzen trage. Avatare, das will ich sagen, sind keine Erfindung der Neuzeit.

Offenbar ist es schwer zu ertragen, dass Menschen Legion sind. Wir haben viele Seiten, jeder von uns. Eine brave und eine aufrührerische, eine zärtliche und eine grausame, eine leise und eine laute. Die Fülle des Menschseins leben wir nur, wenn alle Seiten wie Saiten schwingen, wenn wir mit Liebe die Argen dämpfen und mit Stolz die Hellen klingen lassen, wenn wir die Furcht, entdeckt zu werden, überwinden, weil wir sie mit vielen teilen. Nur im Licht kann Licht auf das Dunkle fallen, und hinter den Avataren leuchten wir, leuchtet ihr – wunderbare Geschöpfe Gottes, jedes für sich.

 

 

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