Virale Bilanz

„Lockerungen“ heißt das neue globale Zauberwort. Langsam sollen wir zurückfinden zur Normalität, wobei gerne betont wird, dass das neue Normal nicht ganz dem alten Normal entspricht. Gestern war ich zum ersten Mal in dem neuen normalen Gottesdienst. Ich durfte vorsingen, alle anderen saßen betreten mit Mundschutz und grotesk weit voneinander entfernt in der riesigen Kirche.

Gottesdienst ist ein Luxusproblem

Ich bin keineswegs gegen den Mundschutz, und ich habe auch nichts gegen die Beschränkungen. Ich hab aber auch nichts gegen die Lockerungen. Lasst doch bloß die Kids endlich wieder normal in Schule und Kindergarten gehen! Das ist so wichtig. Ob und wie Kneipen und Biergärten aufmachen dürfen, ist ein Luxusproblem. Ob und wie wir Gottesdienst feiern dürfen allerdings auch.

Wie Sklaven, die sich selbst die Ketten anlegen

Ich kann kaum in Worte fassen, wie betreten ich bin von dem, was grade bei Kirchens passiert. Die lieben KollegInnen kehren in die „Normalität“ zurück wie Sklaven, die sich selbst die Ketten wieder anlegen. Dabei haben sie so viel entdeckt in diesen Wochen! Sie haben so viel gelernt! Sie haben ihre Talente neu ausgelotet, neue Gemeindeglieder gewonnen, neue Medien ausprobiert und vielerorts festgestellt, dass das Internet gar nicht so böse ist, wie Mutti immer sagt.

Der Break war so nötig!

Die Corona-Zeit war für uns als Kirche eine wichtige Zeit, ein Break, der dringend nötig war. Jetzt müssen wir langsam an die Auswertung gehen: Was war da eigentlich so anders? War das Anders denn so schlimm, wie wir immer dachten? Wie gehen wir damit um, dass wir nicht so wichtig sind, wie wir glaubten? Ich frage mich auch, warum diese Zeit so ruhig war. Es waren ja nicht nur die Gottesdienste, die keine Arbeit mehr machten. Es gab weniger Gremiensitzungen, die Zoom-Besprechungen waren kürzer als die „echten“, es gab kein Flurgeplänkel und keine Lästereien am Rand. Wir machen uns weniger gegenseitig Arbeit. Es gab schlicht keine Fahrzeiten! Das ist in Nordfriesland erheblich! Ich fahre 45 Minuten nach Niebüll oder St. Peter – es spart Zeit, Geld und CO2, wenn wir digital kommunizieren.

Unsere Gottesdienste sind bestenfalls kultig

Das müssen wir uns in Ruhe angucken. Und wir müssen in die Zukunft planen: In zehn Jahren geht die Boomer-Generation in den Ruhestand, Nachwuchs ist nicht in Sicht. Wir werden definitiv 30 Prozent weniger PastorInnen haben. Wir hatten die Chance, uns darauf vorzubereiten, Lehren zu ziehen, neue Modelle zu entwickeln. Aber stattdessen rasen wir wie blinde Hühner in die alten Gottesdienstformen, die unter den neuen Bedingungen echt ein Witz sind. Und mal ganz ehrlich: Sie waren es auch schon vorher. Unsere Gottesdienste sind und waren Insider-Veranstaltungen, bestenfalls kultig für die, die sie lieb haben, abschreckend für jeden, der nur mal gucken möchte.

Welche Lehren ziehen wir aus dieser Zeit?

Warum hatten wir so gute Klickzahlen bei den Video- oder Audio-Angeboten? Ein Reiz war, und das wissen die KollegInnen, dass Interessierte sich zu jeder beliebigen Tageszeit reinklicken konnten. Man musste sich nicht umziehen, man vermied den Smalltalk, den alle hassen, man konnte während des Gottesdienstes Erdbeerkuchen essen und vorspulen, wenn gar zu langweilig wurde. Na und? Ist doch prima, dass so viele dabei waren! Welche Lehren ziehen wir daraus?

War es nicht irgendwie auch schön?

Ich habe von keinen Konflikten zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen in dieser Zeit gehört. Auch von Ehrenamtlichen war der Aktivitätsdruck genommen, die PastorInnen waren entspannter und hatten Zeit, auch mal etwas länger zu telefonieren. Und dann war es gar nicht schwer, eine Handvoll Leute zu finden, die mal eben eine Andacht oder eine Familienmampf austrugen. War es nicht irgendwie auch eine schöne Zeit?

Die Frage nach der Gemeinschaft ist entscheidend

Ich bin enttäuscht: Digitale Kirche sei etwas anderes, sagte Hanna Jacobs damals, und ich habe ihr energisch widersprochen. Ich war so froh, dass es begann, aber kaum jemand ging den nächsten Schritt: Wie halte ich digital Kontakt mit Konfis, wie bringe ich Menschen in Gemeinschaft, wie spende ich digital Segen, Glück, Hoffnung und Trost? Sie blieben alle im Verkündigungsmodus, sie blieben alle für sich. Wie Weizenkörner, die nicht in die Erde fallen wollen ……

Bin ich wirklich die einzige, die fragt?

Vielleicht ist an mir als Öffentlichkeitsreferentin, die Bilanz voranzutreiben. Außer mir tut es nämlich niemand, außer mir fragt anscheinend niemand danach. Sie rennen alle zu ihrem blöden Normal zurück, obwohl sich so viele nach etwas Anderem sehnen. Ein Sabbatical wäre nötig, ein weiteres Vierteljahr im kirchlichen Lockdown, um zu sortieren, zu verstehen und neu zu beginnen.

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