Das neue ADHS im Netz

Vor wenigen Tagen hab ich mich noch gewundert über den bröckelnden Putz meines Terminplans. Gott sei Dank war es nur der Putz! Ewig steht fest der Kirche Haus! Und das ist nicht nur aus Steinen gemauert, wie wir sehen, sondern aus uns selbst, die wir bleiben wie wir sind und weder mit- noch ohne einander wirklich auskommen.

Alles toll, aber viel zu viel

Es ist als hätte man uns Pudeln gleich mit dem Corona-Schock übergossen. Aber nach der ersten Schockstarre haben wir uns einmal kräftig geschüttelt und dann aber mal so richtig losgelegt: Täglich erreichen mich Meldungen von Kollegen, die super Aktionen machen, analog und digital, um ihre Menschen trotz Kontaktverbots zu erreichen. Sie überschlagen sich dabei fast, und sie leisten Großartiges. Manches hätte man sich ein bisschen früher gewünscht, und bei anderen denkt man, sie sollten es besser lassen. Trotzdem: Ein bisschen stolz bin ich schon auf meine Kolleginnen und Kollegen. Die kommen richtig in die Hufe. Und trotzdem denke ich: Leute, nun haltet mal eure Füße still. Ebenso ist ja übrigens gesamtgesellschaftlich: Private Hilfsangebote, Balkonsingen, hier ein Insta-Walk, dort ein neuer Hashtag – alles toll, aber viel zu viel.

Wir halten es nicht aus mit uns selber

Mein Terminplan füllt sich wieder. Weniger mit Dienstleistung für die Kollegen, das tue ich sehr gerne. Aber es nervt mich, dass jetzt der Sitzungsmarathon wieder anläuft, digital versteht sich. Wir treffen uns zum Klönen in Online-Konferenzen, probieren miteinander neue Technik aus. Meine Ohren glühen vom vielen telefonieren. Sogar meinen Gesangsunterricht bekomme ich jetzt digital. Versteht mich nicht falsch: All das ist gut, und es macht auch Spaß. Aber ich merke: Wir halten es einfach nicht aus mit uns selber. Der neue Alltag, er ist fast wie der alte, nur eben online. Bloß für Reitstunden gibt es noch keine virtuelle Alternative. Oder hab ich da was übersehen?

Die Botschaft in die Welt gehupt

Ich bin auch zunehmend irritiert von den Online-Gottesdiensten. Wir feiern Gottesdienst als wäre es egal, ob es Gemeinde gibt oder nicht. Wir hupen unsere Botschaft in die Welt wie eh und je, und ob jemand kommt, ob das jemand hören will, interessiert uns nicht. Hauptsache wir hupen das Evangelium. Ich habe mir viele Gottesdienste angesehen und angehört, darunter sind wirklich ganz bezaubernde Formate. Aber nur in einer einzigen Region nutzen Gemeinden die Chance, etwas miteinander zu tun, Grenzen aufzuweichen, Kapazitäten zu konzentrieren, Kompetenzen zu bündeln. Alle anderen wurschteln vor sich hin und versuchen, ihre verstreuten Schafe um sich zu scharen wie eh und je und wenn möglich, den Nebenmann, die Nebenfrau zu übertrumpfen.

Das ist ein bisschen gemein, ich weiß. Die Kollegen wollen einfach weiterhin für Menschen da sein. Und immer noch bildet sich Gemeinde um Personen. Ein Fernsehgottesdienst kann nicht die persönliche Beziehung zum Pastor, zur Pastorin ersetzen. Und trotzdem: In dem Zu-Viel bildet sich etwas ab, was ich noch nicht recht fassen kann.

Analog ist das neue digital

Interessant ist auch die Neu-Entdeckung des Analogen: Pastor Gunnar Engel zum Beispiel fährt mit dem Golf-Car durch seine Gemeinde und predigt über Lautsprecher an den Straßen und Ecken. Ich selber biete einen Gottesdienst per Telefonkonferenz an. Und am Deich treffe ich immer wieder junge Menschen, die die Ausgangssperre durchbrechen und einfach nur zusammen sein wollen. Es ist verboten, aber ich kann es ihnen nicht verdenken. Ich wäre früher auch aus dem Fenster gestiegen, um bei denen zu sein, die ich liebe.

Einfach nur dasitzen

Es wird viel zu lernen geben, wenn das alles vorbei ist. Es wird viel zu tun sein. Vielleicht ist es jetzt für mich an der Zeit, mich digital in die zweite Reihe zu setzen. Jetzt läuft, was ich immer gewollt habe, ich werde so gesehen nicht mehr gebraucht. Ich könnte mehr Musik machen, besser kochen, Fenster putzen oder einfach nur dasitzen und vor mich hinschauen.

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