Adieu, kleine Bärenraupe

Die kleine Bärenraupe ist tot. Spaziergänger entdeckten das Kriechtier im Elbtunnel, Kanalröhre 4. Der genaue Todeszeitpunkt ist nicht mehr festzustellen. Die Todesursache dagegen steht fest: Sie wurde überfahren.

Chance der Bärenraupe, über die Strasse zu kommen?
Keine Chance.
Sechs Meter Asphalt.
Zwanzig Autos in einer Minute.
Fünf Laster, ein Schlepper, ein Pferdefuhrwerk.
Die Bärenraupe weiß nichts von Autos.
Sie weiß nicht, wie breit der Asphalt ist.
Weiß nichts von Fußgängern, Radfahrern, Mopeds.
Die Bärenraupe weiß nur, dass jenseits Grün wächst.
Herrliches Grün, vermutlich fressbar.
Sie hat Lust auf Grün. Man müsste hinüber.
Keine Chance. Sechs Meter Asphalt..
Sie geht los. Geht los auf Stummelfüßen.
Zwanzig Autos in der Minute.
Geht los ohne Hast. Ohne Furcht. Ohne Taktik.
Fünf Laster. Ein Schlepper. Ein Pferdefuhrwerk.
Geht los und geht und geht und geht und kommt an.*
 

Rudolf Otto Wiemer

Der Text von Rudolf Otto Wiemer begleitet uns nun ziemlich genau 50 Jahre. Er war Ermutigung in Krisenzeiten: der Kalte Krieg, das atomare Wettrüsten, Kernkraft und das Waldsterben – wir wussten eigentlich nicht, woher wir Hoffnung nehmen sollten und haben trotzdem weitergemacht. Wie die kleine Bärenraupe. Als wüssten wir von dem allen nichts. Jetzt aber wissen wir: Der Klimawandel ist da. Er ist menschengemacht. Wir werden ihn bestenfalls verlangsamen können. Die kleine Bärenraupe ist tot.

Die Krise der Kirche ist nicht allein menschengemacht. Wir haben wirklich alles versucht: Große Events und kleine Ideen, wir sind nah an unseren Leuten, gestalten liebevolle Amtshandlungen und Gottesdienste, und immer noch und immer wieder verbringen wir Stunden in Raupenrettungsgremien, als ob es noch Hoffnung gäbe, wenn wir uns nur etwas mehr anstrengen würden. Sorry, liebe Leute, ich muss euch eine traurige Mitteilung machen: Die kleine Bärenraupe ist tot.

Im Jahr 2060 werden wir nur noch die Hälfte unserer Mitglieder haben. Damit kommen wir dann gesamtgesellschaftlich an die 20 Prozent. Lange glaubten wir, das läge allein am demografischen Wandel. Aber die Freiburger Studie belegt klar, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Menschen treten aus der Kirche aus. Viele Menschen. Sie bringen ihre Kinder nicht mehr zur Taufe. Wir haben einen Traditionsabbruch, der nicht mehr zu heilen ist. Die kleine Bärenraupe wurde überfahren, ihr Tod trifft uns unerwartet und wir kennen den Verursacher nicht wirklich: Vielleicht war es eine Kolonne von rücksichtslosen Social-Media-LKW, vielleicht saß auch Satan selbst am Steuer eines elektromobilen BMW.

Die kleine Bärenraupe ist tot. Die Kirche, wie wir sie kannten, wird es 2060 nicht mehr geben. Natürlich können, natürlich sollen wir weiter über Verbesserungen nachdenken, aber es wird die Kirche nicht retten, wenn wir die Verwaltung vereinfachen, Regionen bilden oder Tauffeste veranstalten. Wir brauchen einen grundlegenden Strukturwandel. Vielleicht fallen wir zurück in die parochialen, kleinen Einheiten, verzichten auf Geld und gesellschaftlichen Einfluss. Bauen den ganzen Wasserkopf ab. Aber dabei verlieren wir Menschen und Ideen. Die Frauenwerke zum Beispiel fielen dann raus. Große Kirchenmusik geht nicht mehr. Und auch den Schutz von allem, was queer ist, können die kleinen Einheiten nicht leisten. Oder wir lösen alle parochialen Grenzen auf und denken nur noch in Themengemeinden: Es gibt Liturgiegemeinden, es gibt Chorgemeinden, Frauengemeinden, Netzgemeinden – lauter fröhliche Bubbles, die kommen und gehen. Dabei aber verlieren wir unsere Alten, die Ängstlichen, die Kontaktscheuen und die Konservativen.

Hinter vorgehaltener Hand flüstert man vom Kleiner-Werden und wagt doch gleichzeitig nicht zu denken, was das bedeuten kann, was das bedeuten muss: für historische Gebäude, für 1000jährige Traditionen, für Menschen und ihre Arbeitsplätze, für eine auseinanderfallende Gesellschaft, für eine Welt ohne Gott.

Moment: Ein Welt ohne Kirche wird keine Welt ohne Gott sein. Das Evangelium ist nicht totzukriegen. Wir werden weniger werden, aber wir werden nicht verschwinden. Was wir jetzt brauchen, ist ein Spirit, ein gemeinsamer Gedanke, ein Ziel, eine Hoffnung, was wir sein könnten. Wär gut, wenn Jesus wiederkäme. Der wüsste, was zu tun ist.

Die Bärenraupe ist tot. Überfahren auf der A7 im Elbtunnel, Kanalröhre 4. Allerdings ließ sich nicht mehr genau feststellen, ob sie sich nicht längst aus ihrem Kokon befreit hatte. Vielleicht sirrt irgendwo ein Schmetterling in den Köpfen, wunderschön und leicht, voller Zuversicht? Vielleicht ist, was wir vorfanden, nur der Rest der Gestrigen, die Zukunft findet längst woanders statt? Wenn die Kirche, wie wir sie kennen, endlich stirbt, dann öffnen sich – so Gott will – die Volieren, und endlich ist er frei. Und die Menschen sagen: Endlich. Kommt, wir suchen ihn.

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