Einmal glatte Haare haben…..

Ich denke oft an Arno. Arno ist meine Kinderliebe, ein netter Junge aus der Nachbarschaft in dem kleinen Dorf, in dem ich aufwuchs. Arno ist gehörlos. Und trotzdem tanzten wir gerne miteinander beim jährlichen Kinderfest – ein bisschen unbeholfen vielleicht, aber so wie Kinder es halt tun.
Ich denke oft an Arno, weil er eine Gebärde für mich hatte, die alle im Dorf kannten: Er zwirbelte mit dem Zeigefinger in den Haaren. Inke, das ist die mit den Locken.

Die Haare haben mir das Leben versaut
Manchmal denke ich, diese Haare haben mir das Leben versaut. „Krause Haare, krauser Sinn“, sagt man gerne, und es stimmt allzu bitter. Meine Mutter riet mir, sie unter unter einem Kopftuch zu trocknen, dann würden sie vielleicht glatt. Immer seh ich irgendwie wirr aus, die schickste Klamotte scheitert an der Frisur, bei Bewerbungsgesprächen stehen sie grundsätzlich in alle Richtungen – was soll so eine schon im Kopf haben?
Aber als ich sie einmal ratzeputz kurz schnitt, fürchteten sich die Kindergartenkinder vor mir, und meine Olderuper grüßten mich nicht mehr. Ohne Haare keine Inke. Darum denke ich so oft an Arno. Der wusste das schon früh.

Endlich blond: Virtual Reality
Nun könnte ich mir ja mit einer virtuellen Identität endlich meinen Traum von glatten Haaren erfüllen. Ich könnte mich blond machen, schlank und schön. Ich könnte mir sonstwas ausdenken, könnte mich neu erfinden, im Netz einfach eine andere sein. Ich könnte mir sogar einen Avatar bauen, eine, die für mich spricht, die ich ist und doch anders.
Warum ich das nie getan habe? Keine Ahnung.
Das Gegenteil ist der Fall: Die Haare wurden zum Markenzeichen. Sogar im Gegenlicht, wenn kein Stück meines Gesichts zu erkennen ist, weiß jeder: Das ist Inke. Und Arno wusste es schon immer.

Foto: Pixabay sweetlouise

Ein letzter Gruß
Nun traf ich auf dem Barcamp der Nordkirche eine Kollegin zum ersten Mal in Real Life. Sie erkannte mich erst, als ich mich vorstellte. „Die Haare“, sagte sie, „ich hatte mir irgendwie noch viel mehr Haare vorgestellt.“ Und ich denke an Arno, den ich seit 40 Jahren nicht gesehen habe. Arno ist wenige Tage nach diesem Post gestorben. Ich schicke ihm posthum die einzige Gebärde, die ich kenne: zu einem Herzen gelegte Hände. Weil er mich auf den Punkt gebracht hat. Ruhe in Frieden, alter Freund.

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