Ver-rückt.

„Du bist doch krank“ – Zorn und Hilflosigkeit verführen zu dieser Aussage: Mit manchen Menschen kommen wir an Grenzen, wo Worte nicht mehr verfangen, wo Argumente nicht mehr ziehen, wo wir uns der Übergriffe des anderen erwehren müssen und mit dem Rücken zur Wand stehen. Im Affekt mag das okay sein, in psychologisierender Herablassung ist es das nicht. 

Ich habe mit wirklich kranken Menschen zu tun. Da ist mein behinderter Onkel, der 75-Jährige Kettenraucher mit dem Geist eines Dreijährigen. Seine Welt ist eingeschränkt, sein Denk- und Sprachvermögen begrenzt. Trotz dieses Wissens ist der Umgang mit ihm nicht leicht. „Nein, du darfst kein Bier trinken“, „ich kann dich nur jeden zweiten Monat besuchen“, „ich werde dich Weihnachten nicht heimholen.“ In seiner Kinderwelt sind das Zumutungen, die er nicht versteht und jedes Mal neu hinterfragt.

Schwieriger ist es mit denen, die mehr schlecht als recht funktionieren, die überall anecken, Raum greifen und mit ihrer ver-rückten Weltsicht manipulativ agieren. Es ist immer wieder herausfordernd, mit ihnen umzugehen. So gern man helfen möchte: Sie haben die zerstörerische Kraft Ertrinkender und ziehen jeden, der sich ihnen nähert, klammernd mit hinein in ihren Tod.

In der Seelsorge-Ausbildung lehrte man uns, klar in der Abgrenzung zu bleiben. Der professionelle Abstand ist nötig, auch im Umgang mit sogenannten „Gesunden“. Nur aus der Distanz kannst du gut begleiten, und wenn du ein psychiatrisches Krankheitsbild identifizierst, dann musst du auf psychiatrische Begleitung hinwirken.

In der Praxis ist das so gut wie unmöglich. Gerade die wirklich Kranken reagieren empfindlichst auf Therapie-Empfehlungen. „Ich bin doch nicht verrückt!“ oder „Mir kann eh keiner helfen.“ Sie fühlen sich weggestoßen, ausgegrenzt und an den Pranger gestellt – Erfahrungen, die sie lebenslang begleiten und prägen, die sie mit ihrem Verhalten verursachen und auf vielfältige Weise zu vermeiden suchen. Sie sind krank vor Schmerz und Kränkung und Einsamkeit, und sie wären nichts lieber als einfach nur normal.

Ich bin keine Expertin. Aber mir scheint, dass die Grenzen zwischen krank und gesund oft fließender sind als uns gelehrt wurde. Es gibt ja Zeiten, da bin ich so wund, dass ich in sozialen Bezügen kaum mehr funktioniere. Und ich habe etliche Therapien durchlaufen in der Hoffnung, dass sie mich zu einem normalen Menschen machen würden. Meine Ausbilderin sagte mal: „Sie haben ein Herz für die Verrückten.“ Ja, das stimmt. Ich hab ein Herz für meine Verrückten. Bin ja selber ein bisschen meschugge. Manchmal sind wir alle gefangen in uns selbst.

Das ändert nichts daran, dass ich mich abgrenzen muss. Ich muss arg aufpassen, dass ich mich nicht von der Krankheit instrumentalisieren lassen, und mir ist bewusst, wie verletzend das für meine Schäfchen ist, wenn ich nicht in ihre Denkmuster einsteige.

Ein möglicher Weg hat sich in den Jahren aufgezeigt: Ich bin da, und ich halte dich. Ich geh nicht weg, auch wenn du mich anschreist. Du bist in meinen Gebeten, wenn die Schatten dich so überwältigen, dass wir nicht miteinander reden können. Ich werde da sein, wenn du aufwachst und Lichtschimmer in dein Bewusstsein dringen.

Es ist so wenig, was ich tun kann. Aber es ist mehr als kaltes Wegdelegieren in die Psychiatrie. Und es ist deutlich etwas anderes als „Du bist doch krank!“. Ich bitte alle, die das hier lesen: Hört auf mit den psychologischen Schnellschüssen, die eigener Kränkung entspringen. Bleibt nicht in der Abgrenzung stehen, lasst die, die wirklich krank sind, nicht allein. Denn wenn es gelingt, kann sie vielleicht an deiner Hand den nächsten Schritt gehen und professionelle Hilfe finden. Schon morgen kannst du es sein, die krank vor Schmerz und Kränkung und Einsamkeit nichts dringender ersehnt als eine Hand, die dich hält.

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