Weihnachten ohne….

Am langen Tisch in unserem Esszimmer haben zehn Menschen Platz. Früher war es zu Weihnachten bei uns gerappelt voll. Aber dann wurden es immer weniger. In diesem Jahr fehlt wieder einer und kommt nicht zurück: Mein Vater ist im Sommer gestorben. Es ist unser erstes Weihnachten ohne ihn. Er war 87 Jahre alt, er mochte nicht mehr. Er hat den Tod erwartet und ersehnt. Und trotzdem.

Es fängt damit an, dass er immer seine eigenen Regeln mitbrachte. Schon Wochen vorher hab ich versucht, ein Stück Wild zu ergattern, denn das mochte er am liebsten. Dazu gestovte Bohnen und Rotkohl, zum Nachtisch Eistorte oder „Mädchenröte“, ein Pudding aus Eiweiß und roter Gelatine – ein richtig deutsches Festessen halt, so wie es meine Mutter machte, als sie noch da war.

In diesem Jahr könnten wir theoretisch auch chinesisch essen. Der Rest der Familie ist da nicht so pingelig. Auch mit der Uhrzeit könnten wir flexibler sein: Manches Mal war der Braten schon im Ofen, während ich noch irgendwo Gottesdienst gehalten hab. Das wird in diesem Jahr nicht nötig sein.

Es ist nicht das erste Mal, dass wir Weihnachten feiern ohne jemanden, der dazugehört hätte. Schon vor Jahren starb mein Schwiegervater und einige Jahre später meine Mutter. Ich stellte noch einen Teller für sie  hin, dekorierte ihn mit einem Marzipanherzchen und legte das gute Besteck rechts und links daneben, so wie ich es bei ihr gelernt hatte. Aber dann nahm ich das Gedeck doch wieder weg. Es tat einfach zu weh, die Leere noch mehr als der Tod.

In diesem Jahr steht wieder ein Teller weniger auf dem Festtisch, und es wird wieder ein Stuhl frei bleiben, auf dem jemand fehlt, der nicht wiederkommt.

Mit dem Abschied ist es sowieso eigenartig. Ich gehe durch die Stadt und entdecke ein Restaurant. „Das hätte ihm gefallen“, denke ich und werde ein bisschen traurig, dass das nicht mehr geht. Es hat mich immer genervt, diese deutschen Essen für ihn zu kochen. Aber jetzt, wo es bei uns viel zu oft nur Nudeln und Grünzeugs gibt, ist mir das auch nicht recht. Wir müssen unser Elternhaus ausräumen und verkaufen, aber ich schaffe es einfach nicht, seine blaue Arbeitsjacke wegzuwerfen, mit der ich ihn immer aufgezogen habe, und unter Tränen hab ich mich von seinen Gummistiefeln getrennt.

Er gab unserem Weihnachtsfest Gestalt. Erst wurde ordentlich gegessen. Gemeinsam. Mit Nachtisch – und erst dann kam die Bescherung. Wir sangen am Baum die alten Weihnachtslieder aus dem Buch, das seine Wurzeln in der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts hat. Da sind Stücke drin, die sonst kaum jemand kennt: „Mit den Hirten will ich gehen“ oder „Welchen Jubel, welche Freude“ – Lieder zu unserer Familiengeschichte wurden. Als wir Kinder waren, schien diese Singerei kein Ende zu nehmen, heute können wir davon gar nicht genug kriegen.

Früher war er es, der zum Schluss die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium vorlas – in den letzten Jahren durften wir es tun. Seine Augen waren schlecht geworden und seine Stimme zittrig. Und dennoch: Ich liebte seine ganz eigene Betonung und ganz besonders seine Brüchigkeit, ich liebte diese unfassbare Feierlichkeit, wenn er, der sonst immer, überall und mit jedem Plattdeutsch sprach, auf Hochdeutsch mit herben norddeutschem Akzent die alte Erzählung aus der Bibel las.

Nach dem Tod meiner Mutter tat er sich schwer mit dem Schenken. „Ik heff wedder blots een kole Couvert”, sagte er traurig und übereichte mir den Umschlag, in dem immer viel zu viel war. Und ich kaufte mir von dem Geld etwas, für das ich sonst zu geizig gewesen wäre: eine neue Kamera, eine Gitarre oder das massiv-hölzerne Sideboard im Flur. Diese Dinge tragen seinen Namen, sie zu kaufen waren Highlights für mich. Und das wird mir so sehr fehlen: Geld ausgeben kann ich alleine, aber dieses Gefühl, dass ich mir etwas gönnen darf, weil er es mir gönnt, das wird es nicht mehr geben. Das „kole Couvert“ war nicht kalt. Ganz im Gegenteil.

Wir sind immer noch eine beschauliche Runde, auch wenn sie im Laufe der Jahre kleiner wurde. Wir werden auch in diesem Jahr fein essen. Es gibt Ente, das hat die Nichte sich gewünscht. Dazu Rotkohl und gestovte Bohnen, man muss sich ja irgendwie treu bleiben. Und wir werden miteinander am Baum singen, so wie wir das seit vielen Jahren tun. Einer wird die Weihnachtsgeschichte vorlesen, es wird sich schon jemand finden. Und nach der Bescherung werden wir wieder Wichtel würfeln. Einer von uns wird dieses scheußliche rote Handtäschchen ergattern, das schon meine Mutter ins Spiel gebracht hat und das seitdem immer wieder auftaucht. Es ist wirklich sehr hässlich und alle Jahre wieder der Brüller schlechthin.

Wir feiern Weihnachten. Ohne meinen Schwiegervater, den ich sehr geliebt habe. Ohne meine Mutter, die der Mittelpunkt der Familie war. Und nun auch ohne meinen Vater, der so still und leise aus unserem Leben ging. Es wird schon schön werden, trotzdem. Am 1. Weihnachtsfeiertag bringe ich ihnen einen Zweig von unserem Tannenbaum ans Grab, und die Lücke in unserem Baum erinnert uns an die Lücke in unserem Leben. Ich bin getrost, wirklich, ich bin nicht traurig: Ich weiß sie alle von guten Mächten wunderbar geborgen. Aber Weihnachten, da sind sie alle mir noch einmal besonders nah.

 

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