Let my people go

Ein bisschen überrascht bin ich schon: Über die Frage der Residenzpflicht kriegen sich gestandene Theologinnen und Theologen so richtig in die Wolle. Wer dagegen ist, liebt seinen Beruf nicht richtig, sagen einige. Wer dafür ist, bleibe in alten Rollenverständnissen verhaftet, sagen andere.

Zur Sache: Unter einer beruflichen Residenzpflicht versteht man die Auflage, dass Angehörige bestimmter Berufsgruppen verpflichtet sind, ihren Wohnort so zu wählen, dass er in Nähe des Arbeitsplatzes beziehungsweise innerhalb ihres Amtsbezirkes liegt. Bei Kirchens ist die Residenzpflicht mit einer Dienstwohnungspflicht verbunden: Uns werden Pastorate bereitgestellt, die sind mal mehr und mal weniger schön und gepflegt. Immer aber sind sie groß, weil das Gesetz vorschreibt, dass ein Pastorat mindestens 140 Quadratmeter haben muss, damit auch vielköpfige Pfarrfamilien dort leben können.

Früher gab es viele Dienstwohnungen: Hausmeister wohnten direkt bei der Schule, für die Eisenbahner wurden Wohnungen bereitgestellt, weil sie dort leben mussten, wo sie gebraucht wurden. Lehrer und Küster – auch für sie gab es Wohnraum, den sie gerne bezogen. Das war gut, als noch kaum jemand ein eigenes Auto hatte und man in der Regel eh dahinzog, wo die Arbeit war. Heutzutage aber gibt es kaum mehr Dienstwohnungsverpflichtungen. Es ist für den Arbeitgeber aufwändig, sich darum zu kümmern, und Arbeitnehmer schätzen die Distanz zu ihrem Arbeitsplatz. Sie kommen heim und schließen die Tür, die Arbeit bleibt draußen.

Dienstwohnungen gibt es heute noch für einige Beamte, Richter, Politiker und Soldaten. Eine Dienstwohnungsverpflichtung, eine Residenzpflicht dagegen gibt es nur noch selten. Pastorinnen und Pastoren sind residenzpflichtig. Sie müssen das angebotene Pfarrhaus beziehen, egal ob es zu groß oder zu klein, zu teuer oder zu schrottig ist. Oft liegen diese Pastorate in unmittelbarer Nähe zu Kirche und Friedhof, nicht selten sind sie sogar Teil des Gemeindetraktes, manchmal liegt das Kirchenbüro direkt neben dem Wohnzimmer.

Pastorinnen und Pastoren beklagen beizeiten den Mangel an Privatleben. Bei uns stand abends um 22 Uhr plötzlich jemand vom Gemeinderat im Wohnzimmer und wollte mal eben fragen, ob sie nächste Woche wieder im Gemeindehaus tagen dürften. Meine Küsterin stürmte am Sonntagmorgen an mir vorbei (ich war noch im Nachthemd), um aus irgendeiner Abstellkammer, die nur über unsere Räume erreichbar war, frische Kerzen zu holen. Es ist ein sehr besonderes Wohnen im Pastorat. Manches kann man regeln, aber es bleibt ein exponiertes Leben auf dem Präsentier-Teller.

Ich lebe seit vielen Jahren im Pastorat. Unser jetziges ist wunderschön, ruhig und zugleich zentral mit einem tollen Garten, in dem wir auch privat sein können. Dass es in der Mittagsstunde öfter mal klingelt, weil da grad wieder jemand dringend mal ne Mark braucht, ist akzeptabel. Und dass 500 Meter weiter das Haus steht, das wir für unseren Ruhestand gekauft haben, ist auch okay. Unser Pastorat hat ungefähr 200 Quadratmeter mit eigenwilligem Zuschnitt, wir wohnen hier zu zweit. Wir zahlen dafür Miete zum ortsüblichen Preis, also ohne Geldwertevorteil – Geld, das wir vielleicht lieber wie alle Gleichaltrigen in Eigentum investiert hätten. Ich wundere mich, mit welcher Selbstverständlichkeit Gemeindeglieder aber auch Kirchenferne es einfach hinnehmen, dass wir das klaglos akzeptieren.

Meine eindringliche Bitte, die Residenzpflicht aufzuheben, hat andere Gründe: Ein Kollege muss das Pastorat bewohnen und bezahlen, obwohl seine Familie nicht mitziehen möchte, sondern im Eigentum bleibt. Einem anderen wollte man aus eben diesem Grund den Job nicht geben. In zehn Jahren werden wir ein Drittel weniger PastorInnen haben, sie werden in Regionen arbeiten müssen, dann können nicht mehr alle Pastorate bewohnt sein. Aber welche Gemeinde verzichtet freiwillig darauf, dass in ihrem Pfarrhaus noch Licht brennt? Das wird ein zusätzlicher Streitpunkt werden. Wir sind ein Pastoren-Ehepaar. Wir können nicht an zwei Orten „residieren“. Für mich ist es sehr schwer, eine Stelle zu finden, die nicht an ein Pastorat gebunden ist. Die Residenzpflicht ist für alle TheologInnen schwierig, deren Partner berufstätig und ortsgebunden ist. In manchen Situationen wäre es passender, wenn der Pfarrstellen-Inhaber sich ein Appartement in der Gemeinde mieten könnte, damit der Partner vor Ort bleiben kann.

Die Arbeit hat sich verändert. Jeder Pastor, jede Pastorin verbringt mindestens ein Drittel seiner/ihrer Arbeitszeit am PC im Homeoffice, beziehungsweise seinem/ihrem Amtszimmer. Gottesdienste und Amtshandlungen müssen vorbereitet werden, wir kommunizieren via Emails oder Telefon, und auch der Verwaltungsaufwand ist erheblich. Es kommt kaum mehr jemand an unsere Tür mit der dringenden Bitte um Seelsorge, da kommen nur die üblichen Verdächtigen. Wir haben uns verändert: Wir sind nicht mehr die Heilige Familie mit Vater, Mutter und vielen Kindern, wo alles noch so ist wie vor 100 Jahren. Wir sind moderne Familien mit Arbeitsteilung und Erziehungsstress und, so schrecklich es ist: Manchmal knallen sogar Türen.

Ich liebe meinen Beruf. Und er ist für mich viel mehr als ein Job. Aber die Residenzpflicht birgt mehr Probleme als Verheißungen, sie zu diskutieren darf kein Sakrileg mehr sein. Gebt die Residenzpflicht auf, ich bitte euch sehr eindringlich: Let my people go! Wir können die Arbeit der Zukunft besser organisieren, wenn wir nicht zugleich auch noch 1000 Quadratmeter Garten sowie die Hausmeister- und Küsterdienste versorgen müssen. Let my people go! Frei sind wir da, zu wohnen und zu gehen – lasst uns doch endlich frei leben wie alle anderen auch. Let my people go: Unsere Partner, unsere Kinder – sie sind doch nicht unser Besitz, und die Gemeinden haben kein Recht auf ihr Leben. Wir stellen unser ganzes Sein in den Dienst, sind mit Leib und Seele Pastorinnen und Pastoren – lasst uns doch selbst entscheiden, wo und wie wir wohnen möchten.

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